Kunst & Kultur

In der Öffentlichkeit singen oder nicht? Das ist die Frage.

Gemeinsames Singen stärkt das Wir-Gefühl und gibt Kraft. Deshalb ist es nicht nur im Gottesdienst beliebt, sondern auch bei politischen Veranstaltungen oder auf dem Fußballplatz. Nicht Mitsingen, wenn alles singt, kann aber auch zum Akt des Widerstands werden.

Gemeinsam Singen: Hier bei einer Probe des Interreligiösen Chors Frankfurt. Foto: Rolf Oeser
Gemeinsam Singen: Hier bei einer Probe des Interreligiösen Chors Frankfurt. Foto: Rolf Oeser

Ohne „Oh, du Fröhliche“ ist der Weihnachtsgottesdienst für meine 80igjährige Tante null und nichtig. Das Lied erinnert sie an ihre Kindheit in Schlesien und an viele, viele Heiligabende seitdem. „Oh du Fröhliche“ ist ihr von klein auf vertraut, fast kann man sagen: Ein Stück Heimat in sich. 

Die guten alten Weihnachtslieder zu singen, das tut auch vielen Menschen gut, die harte Brüche in ihrem Leben erlebt haben: Wohnungslose, Arbeitslose, Arme. „Trotz Rührung und Erinnerung an bessere Zeiten wünschen sich die meisten einen richtigen Weihnachtsgottesdienst mit den traditionellen Liedern“, sagt Diakoniepfarrer Michael Frase, der jedes Jahr an Heiligabend in der Weißfrauen-Diakoniekirche im Bahnhofsviertel predigt. Das gelte auch für die vielen Osteuropäer, die seit einigen Jahren zur „Langen Nacht am Heiligabend“ in die Weißfrauenkirche kommen. Sie können zwar kaum Deutsch sprechen. „Aber wenn die Melodie von Stille Nacht erklingt, singen sie einfach auf Russisch mit“, erzählt Frase.

Selbst Menschen, die eigentlich keine große Neigung zum Singen haben, machen an Weihnachten mit. Offenes Weihnachtsliedersingen für alle ist im Advent in den Gemeinden beliebt. „Viele alte Leute können noch alle Strophen“, erzählt Karin Baumann, Chorleiterin in der Paulsgemeinde. Sie bietet jeden Mittwoch im Advent in der Alten Nikolaikirche am Römerberg offenes Singen an. „Während des Weihnachtsmarkts kommen auch viele junge viele Familien. Es ist dann immer sehr stimmungsvoll.“

Die wissenschaftliche Forschung hat die gemütsaufhellende Wirkung des Singens  ja auch nachgewiesen. Schon nach dreißig Minuten Singen produziert das menschliche Gehirn erhöhte Anteile von Beta-Endorphinen, Serotonin und Noradrenalin. Stresshormone wie zum Beispiel Cortisol werden außerdem gleichzeitig abgebaut.

Gemeinsames Singen stärkt das Wir-Gefühl und gibt Kraft. Deshalb ist es nicht nur im Gottesdienst beliebt, sondern auch bei politischen Veranstaltungen oder auf dem Fußballplatz. Es kann richtig gut tun, sich einfach mal von der Stimmung anstecken und mitreißen zu lassen.

Natürlich nur, solange sie nicht umkippt und aggressiv wird. Oder ideologisch missbraucht. Hans Scholl, der mit 23 Jahren als Widerstandskämpfer von den Nazis ermordet wurde, war als Teenager noch in der Hitlerjugend und sang dort voller Begeisterung nicht nur deutsche, sondern auch norwegische und russische Lieder. Als später nur noch deutsche Lieder erlaubt waren, stellte er den Nationalsozialismus zum ersten Mal in Frage, wie sich seine Schwester Inge Scholl später erinnerte. Leider hatten nicht alle so feine Antennen wie er.

Nicht Mitsingen, wenn alles singt, kann zum Akt des Widerstands werden: Im August 2016 weigerte sich der Football-Profi Colin Kaepernick, während der US-Nationalhymne aufzustehen. Damit wollte der Quarterback gegen Rassismus protestieren. Später haben sich ihm viele andere Schwarze Football-Stars angeschlossen. Und seit Donald Trump sie am liebsten alle feuern möchte, werden es immer mehr.

Singen, gar öffentlich gemeinsam für eine Sache singen, darf niemals erzwungen werden, sonst karikiert es sich selbst. Darin ist es einer anderen schönen Tätigkeit ganz ähnlich: dem Lieben. Beide brauchen Freiheit, um sich so entfalten zu können, wie sie gemeint sind. Zur Freude des Menschen.


Autorin

Stephanie von Selchow ist Redakteurin des EFO-Magazins.